Kafka geht ins Kino

Kafka war ein regelmäßiger Kinogänger. Notizen über Filme, die er gesehen hat, finden sich in seinen Tagebüchern und Korrespondenzen. Diese einzigartige Vierfach-DVD versammelt erstmals alle erhaltenen Filme, die sich Kafkas Texten zuordnen lassen. Sie reichen von Wochenschauen über historische Ereignisse bis hin zu frühen Melodramen, Kriminalfilmen und Komödien. Die Filme wurden von Filmarchiven in Amerika, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Italien, Russland und Tschechien restauriert und mit neuen Begleitmusiken von Günter A. Buchwald und Richard Siedhoff versehen.

Über Franz Kafka und das Kino

Vieles an Kafkas verstreuten Notizen zum Kino(gehn) ist ein heftiger Abdruck, ein Echo des meist unmittelbar Erlebten und Gesehenen. In ihrer elliptischen Knappheit sind sie Traumresten vergleichbar. Die einzige ausführlichere und zusammenhängende Betrachtung ein Wort, das auch seinem ersten Prosaband vorangestellt ist gilt weniger dem Kino als dem Kaiserpanorama. Kafka schätzt dieses schon aus der Mode gekommene Medium der plastischen Fotografie, weil hier die Bilder „lebendiger als im Kinematographen“ seien, hingegen herrsche bei diesem „die Unruhe der Bewegung“; schließlich phantasiert er wie schon vor ihm Peter Rosegger und auch aus rein kommerziellen Gründen der Erfinder des Kaiserpanoramas selbst eine „Vereinigung von Kinema und Stereoskop“, mithin eine noch sehr viel weiter gehende Entrückung ins noktambule Abenteuer.

Kafka registriert sehr genau die paradoxe Macht des Kinos: Ungeachtet des unbestreitbar trivialen Realismus, der leicht durchschaubaren Machart des Ganzen Kafka spricht einmal von „alten Filmerfindungen“, gelingt dem Kino mithilfe der überlebensgroßen Projektion im künstlich verdunkelten Raum eine bis dahin ungeahnte Überwältigung; diese ist so stark, dass sie, wie Kafka schreibt, die Zuschauer erstarren lässt. Die Ähnlichkeit mit Traumgeschichten ist naheliegend und gleichzeitig irreführend, naheliegend, weil das onirische Moment, der Tagtraum, sich ähnlich schwer resümieren und „festhalten“ lässt wie der Film, irreführend, weil er ein extrem individualisiertes, inneres Erlebnis ist, das ich mit anderen, im Gegensatz zum Film, nie werde teilen können. Ähnlich wie eine plötzlich hereinbrechende Naturerscheinung ist das Kino imstande, zu rühren, zu verwirren und zu überwältigen. Eine erste Demonstration dieser Überwältigungsmacht hat in Prag Rabbi Löw geliefert, als er Kaiser Rudolf II. und seinen Hof mit einer machtvollen Projektion der Laterna magica in Angst und Schrecken versetzte.

Gegen diese flüchtigen Bilder, die ähnlich wie die Tageszeitungen eine rasch vergängliche Ware waren, mobilisiert Kafka den Depeschen- und Telegrammstil, eine Rhetorik, die versierten Briefstellern im letzten Jahrhundert durchaus geläufig, ja gewissermaßen zur zweiten Sprachnatur geworden war. Mit stenografischer Ökonomie und mit einem untrüglichen Gespür für die Pointe „Street full of water. Please Advise“, so das Telegramm von Robert Benchley bei seinem ersten Venedigbesuch werden das flüchtige, das fliehende Bild und dessen unmittelbare affektive Wirkung „festgehalten“: „Im Kino gewesen. Geweint. Lolotte. Der gute Pfarrer. Das kleine Fahrrad. Die Versöhnung der Eltern. Maßlose Unterhaltung.“ Das Wechselbad der Gefühle setzt sich sogleich fort: „Vorher trauriger Film Das Unglück im Dock, nachher lustiger Endlich allein.“ (Hanns Zischler)

Die Filme

Jízda Prahou otevřenou tramvají (Straßenbahnfahrt durch Prag) Tschechien 1908 – Regie, Drehbuch, Kamera und Produktion: Jan Kříenecký – Restaurierung: Národní Filmový Archiv, Prag

Peschiera / Lago Maggiore e lago di Como / Liguria / Il corse de Mirafiori (Reisebilder aus Italien) – Italien 1907-1913 – Produktion: Società Anonima Ambrosio, Turin / Società italiana Cines, Rom – Restaurierung: La cineteca del Friuli, Gemona

Primo Circuito Aereo Internazionale di Aeroplane in Brescia (Erster Internationaler Wettbewerbfür Luftschiffe und Flugmaschinen, Brescia) – Italien 1909 – Produktion: Manifatture Cinematografiche Adolfo Croce, Mailand – Restaurierung: Fondazione Cineteca di Bologna

Den hvide slavehandels sidste offer (Die weiße Sklavin) – Dänemark 1911 – Regie: August Blom Drehbuch: Peter Christensen – Kamera: Axel Graatkjær – Darsteller: Clara Wieth, Lauritz Olsen, Thora Meincke, Otto Lagoni, Frederik Jacobsen, Peter Nielsen – Produktion: Nordisk Film, Kopenhagen – Restaurierung: Det Danske Filminstut, Kopenhagen / Filmmuseum München

Nick Winter et le vol de la joconde (Nick Winter und der Diebstahl der Mona Lisa) – Frankreich 1911 – Regie: Paul Garbagni – Darsteller: Georges Vinter – Produktion: Pathé Frères, Paris -Restaurierung: Gaumont Pathé archives, Paris

Der Andere – Deutschland 1912 – Regie: Max Mack – Drehbuch: Paul Lind – Kamera: Hermann Böttger – Darsteller: Albert Bassermann, Emmerich Hanus, Nelly Ridou, Hanni Weisse, Léon Resemann, Otto Collot – Produktion: Vitascope GmbH, Berlin – Restaurierung: Filmmuseum München

Theodor Körner – Deutschland 1912 – Regie und Drehbuch: Gerhard Dammann, Franz Porten – Kamera: Werner Brandes – Darsteller: Friedrich Feher, Hermann Seldeneck, Thea Sandten – Produktion: Deutsche Mutoskop- und Biograph GmbH, Berlin – Restaurierung: Filmmuseum München

La broyeuse de coeurs (Die Herzensbrecherin) – Frankreich 1913 – Regie und Drehbuch: Camille de Morlhon – Darsteller: Léontine Massart, Pierre Magnier, Camille Licenay, Jeanne Brindeau – Produktion: Films Valetta, Paris – Restaurierung: La Cinémathèque Française, Paris

Prazdnovanie 300-letija Doma Romanovych (300-Jahr-Feier des Hauses Romanoff) – Russland 1913 – Produktion: Pathé Frères, Moskau – Restaurierung: Russisches Staatsarchiv für Film- und Fotodokumente, Krasnogorsk

Daddy-Long-Legs (Das Waisenkind) – USA 1919 – Regie: Marshall A. Neilan – Drehbuch: Agnes Johnson, nach dem Roman von Jean Webster – Kamera: Charles Rosher – Darsteller: Mary Pickford, Milla Davenport, Percy Haswell, Fay Lemport, Mahlon Hamilton, Lillian Langdon, Marshall Neilan – Produktion: Mary Pickford Company, Los Angeles – Restaurierung: The Library of Congress, Culpepper / Filmmuseum München

Shiwat Zion (Rückkehr nach Zion) – Palästina 1921 – Regie, Drehbuch, Kamera und Produktion: Ya’acov Ben-Dov – Restaurierung: Národní Filmový Archiv, Prag

Kafka va au cinéma (Kafka geht ins Kino) – Frankreich 2002 – Regie und Drehbuch: Hanns Zischler – Kamera: Hanns Zischler, Ute Adamczewski, Miriam Fassbender – Produktion: Movimento Production, Paris

DVD-Features (Vierfach-DVD)

DVD 1
- STRASSENBAHNFAHRT DURCH PRAG 1908, 2 Min.
- Musikbegleitung von Richard Siedhoff
- ERSTER INTERNATIONALER WETTBEWERB FÜR LUFTSCHIFFE UND FLUGMASCHINEN, Brescia 1909, 13 Min.
- Musikbegleitung von Richard Siedhoff
- ITALIENISCHE REISEBILDER 1907–1913, 20 Min.
- Musikbegleitung von Günter A. Buchwald
- NICK WINTER UND DER DIEBSTAHL DER MONA LISA 1911, 10 Min.
- Musikbegleitung von Richard Siedhoff
- DIE WEISSE SKLAVIN 1911, 55 Min.
- Musikbegleitung von Richard Siedhoff
- THEODOR KÖRNER 1912, 41 Min.
- Musikbegleitung von Günter A. Buchwald

DVD 2
- 300-JAHR-FEIER DES HAUSES ROMANOFF 1913, 16 Min.
- Musikbegleitung von Richard Siedhoff
- DER ANDERE 1913, 77 Min.
- Musikbegleitung von Richard Siedhoff
- DIE HERZENSBRECHERIN 1913, 47 Min.
- Musikbegleitung von Richard Siedhoff

DVD 3
- DADDY-LONG-LEGS 1919, 99 Min.
- Musikbegleitung von Günter A. Buchwald
- TÁTA DLOUHÁN 1919, 10 Min. (Ausschnitt)

DVD 4
- Rückkehr nach Zion 1921, 78 Min.
- Musikbegleitung von Günter A. Buchwald
- Audiokommentar von Stewart Tryster
- KAFKA GEHT INS KINO 1913, 55 Min.

28-seitiges dreisprachiges Booklet mit Texten von Hanns Zischler und Stefan Drößler

DVD-Authoring: Tobias Dressel, Gunther Bittmann
DVD-Supervision: Stefan Drößler

TV-Format: 4:3 (PAL)
Originalformat: 1,33:1
Tonformat: Musikbegleitung; Dolby Digital 2.0 (Stereo)
Sprache: Deutsch, Englisch, Französisch, Russisch, Italienisch, Tschechisch, Hebräisch
Untertitel: Deutsch, Englisch, Französisch
Regionalcode: 0, alle Regionen
FSK: Lehrprogramm

Kafka geht ins Kino


Kafka geht ins Kino
Edition Filmmuseum 95
Hg.: Filmmuseum München und Goethe-Institut
28 Seiten, Vierfach-DVD
Laufzeit: 523 Min
erschienen im Mai 2017
ISBN 978-3-95860-095-9
€ 39,95