Vater Courage

Die Deutschen Kammerspiele waren zwischen 1949 und 1974 nicht nur ein Leuchtturm deutscher Kultur in Lateinamerika und ein Aushängeschild westdeutscher Kulturpolitik. Sie waren auch ein organisatorisches, politisches und finanzielles Wagnis und der Lebenstraum eines charismatischen Abenteurers und Theatermannes. Reinhold K. Olszewski gründete und leitete zunächst in Santiago de Chile, dann in Buenos Aires diese Bühne, die jedes Jahr für fast acht Monate unter teils chaotischen Bedingungen und Strapazen knapp 30.000 Kilometer kreuz und quer durch Mittel- und Südamerika tourte und dabei eine Fläche so groß wie Australien bespielte. In den 25 Jahren ihres Bestehens brachten mehr als 170 Ensemblemitglieder etwa 120 Stücke in 18 Ländern auf die Bühne.

Diese Herkules-Aufgabe erinnert an den Traum jenes exzentrischen Abenteurers und Opernliebhabers Brian ›Fitzcarraldo‹ Fitzgerald, wie ihn Werner Herzog für das Kino entworfen hat, der im peruanischen Dschungel ein Opernhaus zu errichten und den Sänger Enrico Caruso dorthin zu engagieren hofft. Während dessen Plan, zur Finanzierung des Hauses einen Kautschukdampfer über einen Berg im Urwald zu ziehen, fehlschlägt und Fitzcarraldo kurz vor der Vollendung seine Vision scheitern sieht, gelang es Olszewski, seine Idee gegen alle Widerstände zu verwirklichen.

Das Repertoire der Deutschen Kammerspiele reichte von Klassikern wie Goethe und Schiller, Shakespeare und Büchner zu den Publikumslieblingen des Boulevards wie Curt Goetz oder Ralph Benatzky, es umfasste aber auch das anspruchsvolle, politische und zeitkritische Theater von Bertolt Brecht bis zu Peter Weiss, Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt. Zum Erfolgsrezept gehörten darüber hinaus die großen Namen der internationalen Theater-Moderne, wie Tennessee Williams, Arthur Miller, Jean-Paul Sartre und Eugène Ionesco.

Gespielt wurde auf Deutsch, im Publikum saßen die Nachfahren jener Auswanderer, die im 19. Jahrhundert die ›Kolonien‹ gegründet hatten, in denen deutsche Sprache und Kultur bis heute lebendig sind, neben deutschsprechenden Latinos und jüdischen Flüchtlingen, die nach 1933 aus Deutschland entkommen waren, und jenen, die teils als gesuchte Kriegsverbrecher nach 1945 Europa verlassen hatten. Für die Zuschauer stellten die Gastspiele des Theaters in der Regel einen kulturellen Höhepunkt des Jahres dar.

»Wir bespielen einen ganzen Kontinent: vom sechsundfünfzigsten Breitengrad südlich bis zum sechzehnten Breitengrad nördlich, in siebenundzwanzig Städten in siebzehn Staaten. Unser Einzugsgebiet ist 114mal so groß wie die Bundesrepublik. Wir machen mit unserem Theater Abstecher, die weiter sind als die Entfernung Frankfurt – New York. Wir sind in soundsoviele Revolutionen gekommen, in soundsoviele Schießereien, notgelandet im Gran Chaco. Neulich hat der sechste Überfall auf meine Person stattgefunden (wegen der Kasse). Temuco, eine kleine Stadt im Süden Chiles, hat uns ein eigenes Theater gebaut, damit wir kommen. Eine Inszenierung von mir, Kennen Sie die Milchstraße?, läuft jetzt seit zehn Jahren. Zu unserem zehnjährigen Bestehen gab es zweiundfünfzig Staatsempfänge. Ich bekam als damals jüngster Deutscher das Bundesverdienstkreuz. Es wird anstrengend, wenn wir in diesen Tagen zwanzig Jahre bestehen.«
Reinhold K. Olszewski im Interview 1969



Weitere Bücher von Andreas Stuhlmann
im belleville Verlag:

Vater Courage

Andreas Stuhlmann
Vater Courage
Reinhold K. Olszewski und die Deutschen Kammerspiele in Lateinamerika 1949–1974
273 Seiten, broschiert
124 Fotos und Abbildungen (teils in Farbe)
erschienen im September 2016
ISBN 978-3-946875-00-0
€ 24,00