Das Einhorn kommt gerne bei Nacht

»Das Einhorn kommt gerne bei Nacht
trinkt gerne Stutenmilch.
Ich selbst bin ab und an ein Einhorn
die Welt ein Ameisenhaufen.«

Heinar Kipphardt (1922-1982) ist bekannt als »Meister des Dokumentar-Dramas« (Axel Eggebrecht); weniger bekannt ist er als Nachbar der Surrealisten und Traumprotokollant. Sein Stück In der Sache J. Robert Oppenheimer (1964) ging um die Welt, Joel Brand (1965) und Bruder Eichmann (1982) brachten die eingebürgerten Sichtweisen über das nationalsozialistische Deutschland durcheinander.

In den 70er Jahren beschrieb Kipphardt in verschiedenen Ausprägungen des März-Stoffes den Lebenslauf eines schizophrenen Dichters. An der Wahrnehmung des Kranken zog ihn die Naivität, die Kindlichkeit an, »die sich über die gewohnten Ordnungsschemata und das rechteckige Denken mit metaphorischen Empfindungs- und Denkweisen einfach hinwegsetzt«. Kipphardt entdeckte hier künstlerische Unabhängigkeit, eine originelle, unentfremdete Sicht auf die Welt, auf die er zuerst durch Hans Prinzhorns berühmte Sammlung psychopathologischer Kunst aufmerksam geworden war – eine Sammlung bildender Kunst.

»Im Herzen der Welt/schneidet er/die Welt/in unser Herz«, hat Rose Ausländer über HAP Grieshaber (1909-1981) geschrieben. Bei dem Holzschneider und Maler stellten sich besonders in den 60er und 70er Jahren eine Vielzahl von Schriftstellern und Dichtern aus Ost und West ein, von Ausländer und Böll bis Martin Walser. Als der grantelnde Vielleser von der Achalm Kipphardt zum März-Film gratulierte, hatten sich zwei verwandte Geister gefunden: Beide schätzten politische Provokationen, hatten ihre unguten Erfahrungen in der deutschen Geschichte gemacht und waren an Künsten der sinnlichen, diesseitigen, grotesken Art interessiert.

Aus ihrer Zusammenarbeit entstand ein Heft von HAP Grieshabers Zeitschrift Engel der Geschichte, der Engel der Psychiatrie. Kipphardt hatte über Filmdrehbuch und Roman hinaus Gedichte in der Haltung eines schizophrenen Künstlers geschrieben, in einer bezwingenden Mischung aus Scharfsinn, Nonsense und ›verrückt‹-verrutschter Wahrnehmung; Grieshaber hat sie wuchtig illustriert.

Dieser Band dokumentiert die Zeitschrift als Ergebnis der Freundschaft, vor allem aber einen poetischen Briefwechsel, der nicht nur von wechselseitigen Komplimenten getragen ist, sondern vor allem vom Spiel mit Assoziationen, die – besonders auf Grieshabers Seite – manchmal fast privatsprachlich werden; seine Härte und Lakonie im Bildnerischen wird im Fluten seiner Briefe ungewohnt durchbrochen: eine Korrespondenz über wenige Jahre, die dafür um so heftiger verläuft.

Herausgeber des Buches ist der Germanist Sven Hanuschek (*1964). Er publizierte Bücher u.a. über Uwe Johnson, Erich Kästner und Heinar Kipphardt.

Das Einhorn kommt gerne bei Nacht

HAP Grieshaber
Heinar Kipphardt
Sven Hanuschek (Hg.)
Das Einhorn kommt gerne bei Nacht
Briefwechsel
Mit einem Anhang: Engel der Psychiatrie
160 Seiten, broschiert
zahlreiche, z.T. farbige Abb.
erschienen im März 2002
ISBN 978-3-936298-05-5
€ 28,00